Freyung. Es sind Geschichten, bei denen man Gänsehaut bekommt. Viele kennen sie nur aus dem Fernsehen, immer mehr Menschen erleben solche Situationen mittlerweile im Alltag – und zwar nicht nur in Ballungszentren, sondern auch im Landkreis Freyung-Grafenau. Da ist ein 16-Jähriger, der sich seit zwei Jahren nach der Schule im Zimmer einsperrt und den ganzen Tag nicht mehr rauskommt. Die Kommunikation mit der Familie läuft über WhatsApp. Da ist eine Mutter, deren Tochter suizidgefährdet ist und mit ihr in Ermangelung eines Führerscheins mit dem Bus nach Passau zur Behandlung fahren muss. Kurzum: Es gibt zahllose Fälle von Kindern und Jugendlichen, die eigentlich dringend stationäre oder zumindest ambulante psychiatrische Behandlung bräuchten, aber teils monatelang auf einen Patz warten oder so weite Strecken auf sich nehmen müssen, dass das für die Eltern kaum möglich ist.
Kürzlich traf sich Bezirkstagspräsident Dr. Olaf Heinrich mit dem geschäftsführenden Vorstand des Kreis-Caritasverbandes Freyung-Grafenau, Josef Bauer, und der Fachgebietsleitung für Erziehungs-, Jugend- und Familienberatung, Aloisia Rothenwührer. Da der Bezirk ab 2019 die Einrichtung einer Psychiatrischen Institutsambulanz (kurz: PIA) für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Krankenhaus Waldkirchen plant – als Außenstelle der bestehenden PIA am Bezirkskrankenhaus Passau - wollte er im Vorfeld Hintergründe zum Thema von den Fachleuten erfahren. „Jahrzehntelang wurde keine Dezentralisierung von Seiten des Bezirks vorangetrieben, heute aber gibt es einen parteiübergreifenden Konsens, dass der Ausbau gerade in unterversorgten Regionen dringend nötig ist“, erklärte Heinrich zu Beginn. Dies stößt bei den Caritas-Verantwortlichen auf große Freude, denn der Bedarf ist jetzt schon extrem hoch und wird wohl in den kommenden Jahren noch deutlich steigen.
Unterversorgte Regionen werden ausgewählt
Für seine PIAs wählt der Bezirk Landkreise, in denen es keinen niedergelassenen Facharzt in diesem Bereich gibt. Dadurch ist ihm die Zulassung durch die Kassenärztliche Vereinigung so gut wie gewiss.
In vielerlei Hinsicht ist eine PIA für Kinder und Jugendliche in Waldkirchen sinnvoll: Nach stationären Aufenthalten ist die Nachbetreuung der Betroffe-nen äußerst wichtig. Denn psychische Erkrankungen sind nicht schnell mal so auskuriert. Da die stationären Plätze aber ebenfalls sehr gefragt sind, bekommen viele keinen Platz – für sie wäre immerhin eine ambulante Be-handlung eine Hilfe. Alleine schon der Diagnostik halber. Denn jedes heil-pädagogische Heim braucht zuerst eine Diagnose, um ein Kind oder einen Jugendlichen aufnehmen zu dürfen, wie Josef Bauer berichtet. „Auch für uns in der Erziehungsberatung ist es enorm wichtig, zu wissen, was bei dem Kind aus psychiatrischer Sicht los ist“, erklärt Aloisia Rothenwührer. Die vier im Landkreis ansässigen Kinder- und Jugendpsychologen wären laut Rothenwührer ebenfalls froh über die PIA in Waldkirchen, wohin sie ihre Pa-tienten bei Bedarf überweisen könnten. In sämtlichen Einrichtungen sind die Wartezeiten lang und ebenso beschwerlich ist oft die Anfahrt für die Betroffenen aus dem Landkreis.
Einrichtungen für den Bezirk defizitär
Genau da will die PIA ein wenig Abhilfe schaffen, indem sie – organisiert wie eine „normale“ Facharztpraxis – die Patienten aus der Region behandeln kann. Und das, wie der Freyunger Bezirkstagspräsident Dr. Olaf Heinrich hervorhob, ohne wirtschaftlichen Druck. Denn eine solche Einrichtung läuft fast unvermeidbar defizitär für den Bezirk, da wolle er gar nicht drumherum reden. „Wir nehmen das jedoch in Kauf, weil es uns die verbesserte Versorgung unserer Kinder und Jugendlichen Wert sein muss.“
Schwierig wird sich indes die Personalsuche gestalten, vor allem die nach einem Facharzt. Durch die Zugehörigkeit zum Bezirkskrankenhaus Passau kann von dort am Anfang jemand nach Waldkirchen abbestellt werden. „Aber langfristig brauchen wir natürlich insgesamt genügend Kinder- und Jugendpsychiater“, verdeutlichte Heinrich.
Vielfältige Gründe für steigende Patientenzahlen
Und dennoch ist allen Dreien klar, dass es sich bei all den Maßnahmen nur um Symptombekämpfung handelt. Die Gründe für die rapide Zunahme an psychischen Problemen bei Kindern und Jugendlichen sind vielfältig und kaum zu lösen. Bauer und Rothenwührer zählen auf: kontinuierliches Zu-sammenfallen von familiären Strukturen; Kinder vereinsamen, ziehen sich in Medienkonsum zurück; Beide Eltern sind beruflich eingespannt, um den Standard zu halten; Alleinerziehende Mütter haben drei Berufe, um über die Runden zu kommen; Zeit und Erlebnisse mit Kindern werden selten, etc. Man könne nur versuchen, alles zu tun, um die Betroffenen zu unterstützen.
Ein Wunsch wäre für die Caritas auch die Einrichtung von Stütz- und Förder-klassen, denn bisher ist der Landkreis der einzige ohne dieses Angebot. „Der Kreistag hat schon einen positiven Beschluss gefasst, nun wäre es an der Staatsregierung, sich finanziell gemeinsam mit dem Landkreis daran zu beteiligen“, so Josef Bauer, der den Bezirkstagspräsidenten bat, sich dafür auch weiter oben einzusetzen. Daneben hat die Caritas auch Pläne für ein eigenes stationäres Angebot für Kinder und Jugendliche im Landkreis. Aber auch hier liegt noch ein langer Weg vor den Verantwortlichen. Immerhin konnte Heinrich auch davon berichten, dass der Bezirk eine weitere Kinder- und Jugendlichen-PIA in Zwiesel plant. Die Einrichtungen werden „ratz fatz voll sein“, meint Aloisia Rothenwührer. Und spätestens nach dem Gespräch hat daran auch der Bezirkstagspräsident keinen Zweifel mehr.
Bildunterschrift: Besprachen die Einrichtung der neuen PIA in Waldkirchen (v. l.): geschäftsführender Vorstand des Kreis-Caritasverbandes Freyung-Grafenau, Josef Bauer, die Fachgebietsleiterin für Erziehungs-, Jugend- und Familien-beratung, Aloisia Rothenwührer, und Bezirkstagspräsident Dr. Olaf Heinrich.