Dingolfing. Wer die Räume der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern Dingolfing, die in einem unscheinbaren Einfamilienhaus im Zentrum untergebracht sind, betritt, dem fallen sofort ungewöhnliche Plakate ins Auge. Mal ist eine Mutter darauf zu sehen, die, während sie ihrem Kind die Flasche gibt, eine SMS verfasst, mal ein Vater, der am Spielplatz auf sein Smartphone statt auf seinen Sohn blickt. „Heute schon mit Ihrem Kind gesprochen?“ steht darauf und es drückt das aus, was die Mitarbeiter dieser Einrichtung der Katholischen Jugendfürsorge (KJF) der Diözese Regensburg häufig erleben.
Rund 300 Familien – und darunter oft mehrere Familienmitglieder – werden hier betreut, vier solcher Einrichtungen der KJF gibt es im Diözesangebiet in Niederbayern, sechs in der Oberpfalz. Von frühkindlichen Hilfen über ADHS-Elterntraining und Pubertätselternkurse bis hin zur Beratung von Scheidungsfamilien reicht das umfangreiche Angebot, das das multidisziplinäre Team aus Diplom-PsychologInnen, Diplom-SozialpädagogInnen mit vielfältigen Zusatzqualifikationen vorhält.
„In Fachkreisen wird häufig diskutiert, ob die Zahl der psychologischen und psychiatrischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen tatsächlich zunehmen oder lediglich mehr Diagnosen als früher gestellt werden. Wie bewerten Sie das aus Ihrer Erfahrung?“, wollte Bezirkstagspräsident Dr. Olaf Heinrich bei seinem Besuch vor Ort gemeinsam mit der Bodenkirchner Bürgermeisterin und Kandidatin für den Bezirkstag, Monika Maier, erfahren. „Kinder sind heute wesentlich stärker belastet“, sagt Eine, die es wissen muss. Seit 25 Jahren ist Carmen Zrenner schon im Dienst und kann durch ihre Arbeit an der Basis durchaus Entwicklungen ablesen. „Die Medien sind nicht das Problem, aber sehr wohl der falsche Umgang damit.“ Doch auch mit dem Schulsystem geht die Psychologin hart ins Gericht. „Diese Selektion in der dritten Klasse und die darauf folgende jeweilige Förderung des früh abgestempelten Hauptschul- oder Gymnasialkindes ist eine Zumutung, ich habe das selbst bei meinem Kind erlebt.“ Laufen auf dem Schulhof werde bestraft und schon im Kindergarten müssten die Kleinen ihre Kräfte dosieren. „Früher wurde geschubst, bis einer umfiel, dann war die Sache klar. Heute dürfen die Kinder das nicht mehr und wenn es später mal zu einer Rangelei kommt, fällt diese viel heftiger aus.“ Eltern seien gestresst von ihrem hektischen Berufsalltag und froh, wenn ihr Kind abends vorm Laptop sitzt.
Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb Heinrich Hoffmann vom Zappel-Philipp und dem Hanns Guck-in-die-Luft. „Im Grunde sind das ein ADHS- und ein ADS-Kind. Manche Kinder können sich einfach nicht stillhalten oder sind abwesend. Das Problem ist unser gesellschaftlicher Umgang damit.“ Insofern, meint der Psychologe Bernd Rattenberger, dass heutzutage durchaus schnell, manchmal auch zu schnell, eine Diagnose gestellt wird. Dennoch sei die Zunahme an Erkrankungen insgesamt unübersehbar.
Gesunde Langeweile, betont die stellvertretende Leiterin Helga Wittmann, gebe es kaum noch, stattdessen aber eine ständige Bespaßung. „Die Freizeit wird mit Terminen vollgepackt, Kinder müssen überall funktionieren. Es ist normal, dass Kinder dadurch auffällig und krank werden und beispielsweise Ängste entwickeln.“ Auch Bindungsstörungen seien keine Seltenheit, sie sind Folge von häufig wechselnden Bezugspersonen bei Kleinkindern, teils sogar Säuglingen, in Kinderkrippen oder bei Tagesmüttern – und eben der auf den Plakaten dargestellten mangelnden Kommunikation der Eltern mit ihrem Kind.
„Wir haben ein gesamtgesellschaftliches Problem, das nicht so leicht zu lösen ist“, resümmierte Olaf Heinrich, dem die Fachleute zustimmten. „Es ist gut, wenn wir politisch auch die Erziehung zuhause fördern, anstatt nur Kindertageseinrichtungen zu finanzieren. Doch wenn manche dies ‚Herdprämie‘ nennen, bedienen sie sich genau der Vorurteile, die junge Mütter aus Angst vor mangelnder gesellschaftlicher Anerkennung zu einer sehr frühen Rückkehr an den Arbeitsplatz drängen.“
Allerdings, so Carmen Zrenner, seien manche Kinder aus „Multi-Problem-Familien“ durchaus besser in einer Kita aufgehoben, da sie dort immerhin betreut werden. Um unter anderem solche Familien besser erreichen zu können, genehmigte der Bezirk der Einrichtung kürzlich eine Halbtagsstelle im mobilen Dienst. „So können wir zu den Familien fahren, die nicht zu uns kommen können“, freuen sich die Mitarbeiter, die wegen der guten Bezahlung des Jobs und einiger interessierter ehemaliger Praktikanten zuversichtlich sind, die Stelle schnell besetzen zu können.
Die stärkere Mobilität will die Leiterin auch nutzen, um mit den Bezirkskliniken in Landshut und Mainkofen zusammenzuarbeiten. „Denn die Kinder von psychisch kranken und suchtkranken Eltern sind eine stark risikogefährdete Gruppe – sie fallen kaum auf, weil sie sehr angepasst sind, um ihre Eltern nicht zu belasten, doch sie laufen große Gefahr, selbst einmal psychisch krank zu werden.“ Da in den Klinikeinrichtungen für psychisch kranke Erwachsene aber nur der Patient selbst, nicht das Kind behandelt wird, wäre eine flexible Sprechstunde, sollten die Eltern das wollen, sehr sinnvoll. Der Bezirkstagspräsident will sich nun dafür einsetzen, dass diese Vernetzung bald umgesetzt werden kann.
Für die hochinteressanten Informationen bedankte sich auch Monika Maier, die im Herbst in den Bezirkstag einziehen will und bei der Beratungsstelle einen „beeindruckenden Einblick in die Bandbreite der Aufgaben vor Ort“ bekommen hat.
Im Bild: Bezirkstagspräsident Dr. Olaf Heinrich (v.r.) und die Bürgermeisterin von Bodenkirchen, Monika Maier, informierten sich beim Team der Erziehungs-, Jugend- und Familienberatungsstelle Dingolfing bestehend aus Leiterin Carmen Zrenner, Stellvertreterin Helga Wittmann, Teamassistentin Renate Schulze und Psychologe Bernd Rattenberger.