„Wir befinden uns in einer dramatischen Spirale“

v.l.: Akademieleiter Volker Gießübl, Schulleiterin Sozialpflege und Pflegefachhilfe, Annemarie Lorenz, Bezirkstagspräsident Dr. Olaf Heinrich

Bezirkstagspräsident Dr. Olaf Heinrich informiert sich in der Pflegeakademie Grafenau

Grafenau. Die Simulationspuppe, die im Obergeschoss der Pflegeakademie Bayerischer Wald in einem modernen Krankenbett an sämtliche High-Tech-Geräte angeschlossen ist, kann alles, was man sich nur vorstellen kann. Sie scheidet auf Knopfdruck eingefärbten Urin oder Magensaft aus und kann sogar mit verschiedenen Hauttypen überzogen werden, um mal einen jungen, mal einen alten Patienten darzustellen. Über Lautsprecher kommunizieren die Lehrkräfte nebenan mit dem Schüler, der hier eigenständiges Arbeiten am Patienten möglichst real lernen soll.

„Was wir hier unseren Schülern an hochmodernen Mitteln anbieten, gibt’s bei weitem nicht in allen Schulen“, sagt der Verwaltungs- und Akademiedirektor Volker Gießübl. Deshalb kommen häufig Abordnungen aus ganz Bayern, um sich hier umzusehen – bald auch eine Delegation der Uni Regensburg. Bezirkstagspräsident Dr. Olaf Heinrich war sehr beeindruckt, als er von Volker Gießübl und Annemarie Lorenz, Schulleiterin Sozialpflege und Pflegefachhilfe, durch die Räume der „Pflegeakademie Bayerischer Wald“ geführt wurde.

Der Grund seines Besuchs war jedoch ein anderer: Der Bezirk ist für die Hilfe zur Pflege zuständig und verzeichnet hier „kontinuierlich steigende Zahlen“. Gleichzeitig werden die alarmierenden Rufe aus allen Bereichen, die mit der Pflege zu tun haben, immer lauter. „Ich habe den Eindruck, dass – wenn sich nicht schnell etwas ändert – der Tag nicht mehr weit ist, an dem das System seine Grenze erreicht“, so Heinrich, der sich bei Volker Gießübl über die aktuellen Ausbildungszahlen und seine fachliche Einschätzung informieren wollte. „Es gibt genügend Betten, doch ohne Personal können Menschen nicht gepflegt werden“, so der Akademieleiter zur Pflege insgesamt.

„Wir verzeichnen einen deutlichen Rückgang bei den Schülern. Im Moment haben wir 130 Schüler, vor Corona waren es 170 in der Fachausbildung.“ Da während der Corona-Pandemie in allen Medien sehr negativ über die Pflege berichtet wurde, seien junge Menschen skeptisch geworden. „Obwohl es ein wunderbarer Beruf ist, der auch viele Entwicklungs- und Aufstiegsmöglichkeiten beinhaltet. Nur das steht im Moment nicht im Mittelpunkt“, so Gießübl, der auch die Bezahlung als gut bezeichnet. „Vielmehr geht es um die Umstände.“

Und die werden schwieriger, denn mit steigendem Personalmangel werden die Angestellten mit Mehrarbeit belastet, die Krankenzahlen steigen. „Wir befinden uns in einer Todesspirale.“
Und die Situation verschärft sich noch zusätzlich durch den Renteneintritt der geburtenstarken Jahrgänge. „Selbst wenn alle Pflegeschulen in Bayern auf Volllast fahren würden, könnten wir nur den Status quo erhalten. Also den Bedarf an Personal decken, den wir brauchen, um die Mitarbeiter zu ersetzen, die in den nächsten Jahren in Rente gehen.“ Hier sei aber die steigende Zahl der Pflegebedürftigen – was bereits jetzt wegen der Alterspyramide prognostizierbar ist – nicht eingerechnet. „Und eine Umfrage, die der Technikcampus Grafenau (TCG) der TH Deggendorf in bayerischen Gesundheitsregionen plus unter 2.600 Pflegekräften durchgeführt haben, zeigt, dass 40 Prozent den Beruf aufgeben wollen, wenn sich die Arbeitsumstände nicht spürbar ändern. Diese Zahl macht mir Angst.“

Es müsste nun sehr schnell gehandelt und diese „Todesspirale“ zu durchbrechen. Konkret schlägt Gießübl eine Strategie vor, die an mehreren Stellen ansetzt. „Wir brauchen Nachwuchs aus dem Ausland, aber nicht nur aus dem europäischen Ausland, weil wir alle bereits dieselben Probleme haben.“ Indien, Singapur bzw. der gesamte asiatische Raum seien beispielsweise Länder mit hoher Arbeitslosigkeit, in denen junge Menschen froh um berufliche Perspektiven in Deutschland seien. „Parallel dazu brauchen wir aber ein gutes Mentorenprogramm, damit diese jungen Menschen wirklich an die Hand genommen, sprachlich gefördert und in die deutsche Gesellschaft integriert werden“, gab ihm Heinrich recht.

Da seit der Abschaffung der Wehrpflicht und damit im Zusammenhang der Zivildienst bereits ein Rückgang bei den deutschen Nachwuchskräften zu verzeichnen war, schlägt Gießübl ein verpflichtendes soziales Jahr vor, das – um Auswirkungen etwa auf Unis und Wirtschaft abzufangen – stufenweise eingeführt werden sollte. „Hier muss der Bund unbedingt tätig werden, schließlich geht es um die menschliche Grundversorgung unserer Gesellschaft.“ Außerdem wäre es wünschenswert, dass auch in Bayern eine zweijährige Ausbildung zum „Pflegeassistenten“ eingeführt würde, so wie in anderen Bundesländern bereits der Fall. „Wir könnten morgen anfangen – und es wäre eine gute Ergänzung zwischen der einjährigen Ausbildung zum Pflegehelfer mit wenigen Sprachkenntnissen als Voraussetzung und der dreijährigen Ausbildung zur Pflegefachkraft mit einem B2-Sprachnachweis.“

Noch sei die Dramatik der Situation der Bevölkerung nicht bewusst, waren sich beide einig. „Denn solange man keine Pflege braucht, denkt man nicht dran“, so Gießübl. Doch wenn nicht schnell gegengesteuert werde, ist die Katastrophe in wenigen Jahren nicht mehr abzuwenden. „Dies trifft aber nicht die Pflegekräfte – die können nicht mehr als arbeiten – sondern es sie trifft die Pflegebedürftigen.“


Im Bild: Die Ausbildung an der Pflegeakademie Bayerischer Wald in Grafenau ist hochmodern, dennoch sinken die Schülerzahlen – wie Akademieleiter Volker Gießübl und die Schulleiterin Sozialpflege und Pflegefachhilfe, Annemarie Lorenz, Bezirkstagspräsident Dr. Olaf Heinrich mitteilten.

Foto: Lang / Bezirk Niederbayern